Leben in Groß-Umstadt

kino

Kino in der Stadthalle am 29.03.2022


Ein gewichtiges Thema, leicht verpackt: Regisseurin (und Ensemblemitglied) Karoline Herfurth nimmt in ihrem dritten Spielfilm den Selbstoptimierungswahn aufs Korn. Episodisch begleitet sie fünf Frauen, von der Teenagerin bis zur Buchhändlerin kurz vor der Rente, bei ihrem Stress mit oft verleugneten, aber tief verankerten Schönheitsidealen. Das Publikum darf sich dabei genüsslich zurücklehnen, wird aber von Zeit zu Zeit bei den eigenen Irrwegen und Fehlentscheidungen gepackt.

„Ich will, dass ihr authentisch seid“, verlangt der Fotograf von leichtbekleideten, superschlanken, aufreizenden Models. Ist das ein schlechter Witz? Oder die neueste Version von Frauenverachtung? Unter dem Mäntelchen angeblich positiver Körperakzeptanz singen Werbung, Frauenmagazine und Youtuberinnen das alte Lied eines Schönheitsideals, dem alle hinterherrennen, ohne es jemals zu erreichen. Selbst Julie (Emilia Schüle), eines der Models, soll angeblich zu dick sein. Und doch gibt das Ideal ihrer Branche den Maßstab für Frauen jeglichen Alters, jeglicher Figur und jeglicher Physiognomie vor. Etwa für Buchhändlerin Frauke (Martina Gedeck), die sich von ihrem pensionierten Ehemann (Joachim Król) nicht mehr gesehen fühlt. Oder für die zweifache Mutter Sonja (Karoline Herfurth), die ihren von Schwangerschaft und Geburt geprägten Körper gegen die frühere Version ihrer selbst eintauschen möchte.

Noch heftiger ist die Lage für Teenager Leyla (Dilara Aylin Ziem), die wegen ihrer Pfunde krass gemobbt wird. Nur die feministisch angehauchte Lehrerin Vicky (Nora Tschirner) hängt ihr Glück nicht an Äußerlichkeiten. Sie macht die Männer zum Sexobjekt, nicht umgekehrt. Keine Liebe, keine Abhängigkeit, keine Anpassung.

Kein Mann ist auch keine Lösung, scheint hingegen Regisseurin Karoline Herfurth zu denken, deren Dramödie nicht auf das billige Abtun des ganzen Selbstoptimierungsquatsches abzielt. Mit leichter Hand und vielen Gags, aber nicht unernst zwingt sie die Zuschauerin und den Zuschauer, sich in wenigstens einer Figur ihres Ensemblefilms gespiegelt zu sehen. Denn es ist ja so: Kaum einer, zumindest von den kleinbürgerlichen Schichten aufwärts, würde zugeben, dass ihm Äußerlichkeiten wichtiger seien als die viel gepriesenen inneren Werte. Trotzdem sagen laut einer Umfrage der US-Zeitschrift „Glamour“ 80 Prozent der teilnehmenden Frauen, dass sie sich beim Blick in den Spiegel schlecht fühlen. „Wunderschön“ leuchtet hinter die Fassade, lotet tiefsitzende Prägungen und Peinlichkeiten aus, die im Regelfall unterm Teppich bleiben. Aber wenn das Licht im Kinosaal ausgeht und eine Komödienspezialistin wie Karoline Herfurth den ganz normalen Alltag der Geschlechterverwirrungen auf die Leinwand holt, darf der Teppich eingerollt werden.

Lange verrät der episodische Film nicht, in welcher Beziehung die meisten der fünf Frauen zueinanderstehen. Das erlaubt ihm assoziative Montagesequenzen, die etwas Erschreckendes nahelegen, ohne es explizit auszusprechen: Ein ganzes Leben lang, von der Pubertät bis zur Rente, müssen Frauen mit aufoktroyierten Rollenbildern kämpfen. Die einfache Lösung der „Body-Positivity“-Bewegung, nämlich sich in seinem Körper vorbehaltlos wohl zu fühlen, ist leichter gesagt als getan, wie Karoline Herfurth in ihren komplexen, dem Leben abgeschauten Figuren deutlich macht. Weil sie ihre Geschichte so nah am echten weiblichen Alltag ansiedelt, spielen weitere Themen hinein: das Zurückdrängen der Frauen in die Mutterrolle, die fehlende Vereinbarkeit von Karriere und Familie, die gerechte Aufteilung von Haushalt und Kindererziehung. (Peter Gutting)

Deutschland 2019/2020, Regie: Karoline Herfurth, Darsteller: Karoline Herfurth, Nora Tschirner, Martina Gedeck, Emilia Schüle, Dilara Aylin Ziem, Joachim Król, Friedrich Mücke, Maximilian Brückner
131 Minuten, ab 0 J.

Mehr Informationen:
https://ztix.de/hp/events/8855/info

Die Veranstaltung findet mit den aktuellen Corona-Regeln statt, derzeit 2G / AHA / Maske